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AutorenbildWalter Petschnig

Befindet sich die Patientensicherheit am Zenit?

© NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft (2019)


Einleitung Der Artikel soll mit einer Einschätzung der oben angeführten Überschrift beginnen. So lautet die persönliche Einschätzung des Autors zur Überschrift definitiv nein.

Der Autor befindet sich in der glücklichen Lage Einrichtungen und Organisationen im Akut-, Reha- und Langzeitpflegebereich auf allen Ebenen in ganz Österreich als Auditor kennenlernen zu dürfen sowie als Trainer und Berater von Risikomanagern bis hin zur Vorstands-/Holding Ebene tätig zu sein. Es wird die Gelegenheit wahrgenommen, Erfahrungen, Einblicke und Einschätzungen zum genannten Thema im Gesundheitswesen wiederzugeben. Es ist nicht Ziel dieses Artikels das Gesundheitswesen schlecht zu reden, herabzusetzten oder sich nur auf Negatives zu konzentrieren. Dass sich Klinisches Risikomanagement natürlich vorrangig mit Fehlern, Risiken und negativen Entwicklungen auseinandersetzt, um gezielt auch dagegen wirken zu können, liegt in der Natur der Sache. Mein Anliegen ist die Darstellung des absoluten Nutzens eines gelebten Risikomanagements und verfolgt das Ziel zur weiteren Sensibilisierung. Neben wirklich vielen großartigen Risikomanagement Beispielen in hervorragenden Einrichtungen ist es aber auch unabdingbar jene Aspekte aufzuzeigen, wo es nach wie vor häufig an Wissen, Struktur und Erfahrung im Aufbau, Betreiben und Verbessern eines Klinischen Risikomanagements fehlt.


Hauptteil Die Landschaft, Qualität und Quantität des Themas Patientensicherheit und Klinischen Risikomanagement im österreichischen Gesundheitswesen ist als heterogen einzustufen. Heterogen insofern, dass sich Einrichtungen mit sehr profunden integrierten Risikomanagement (RM) Elementen und Strukturen bis hin zu rudimentären oder kaum vorhandenen RM-Strukturen finden lassen. Bei der Durchführung einer Analyse mehrerer Pflegeheime vor geraumer Zeit, wurde die Information durch die dort ansässige Pflegedienstleitung (zuständig für mehrere Pflegeheime) gegeben, dass ein Risikomanagementsystem in deren Haus implementiert sei. Es hat sich jedoch nach der Begehung aller Bereiche und Stationen gezeigt, dass bei 2 von über 20 Stationen nur eine einzige Checkliste (trotz identer Anforderungen) benutzt wurde. Auf die Frage hin wer der fachlich für das Qualitäts- und Risikomanagement der Einrichtung zuständig sei, wurde auf einen dort tätigen Hausarzt verwiesen, der sich während des Studiums gerne mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Dies ist wohl als sehr positiv an zu sehen, ersetzt aber nicht das erforderliche Wissen. Das angeführte Beispiel aus der Praxis ist mit Sicherheit ein seltenes Negativbeispiel, spiegelt jedoch in Teilaspekten die Unkenntnis, ein fehlendes Gesamtverständnis sowie eine nur partiell oder nicht vorhandene bzw. nicht stringente Systematik mehrerer Einrichtungen wider. Die einst gegebene Auskunft der Pflegedienstleitung des obigen Beispiels zum Bestand des Risikomanagementsystems, zeigt die nicht selten in der Praxis fehlende Kenntnis von Führungskräften über die allgemeinen Grundlagen des Risikomanagements als ebenso ein fehlendes Verständnis für Begriffe und Strukturen. Es bedarf hier ganz gezielter Schulungen der mittleren und obersten Führungsebene, adaptiert auf strukturelle Gegebenheiten.

Es ist wichtig festzuhalten, dass zur Erhöhung der Patientensicherheit nicht zwingend ein komplettes RM-System implementiert sein muss. Vielmehr kommt es auf systematische, gut geplante und organisierte Risikomanagementelemente und Abläufe an. Zuletzt genanntes muss mit dem Bekenntnis (z.B. RM-Politik, Zielen etc.), der Unterstützung (Rückenwind) und den Vorgaben sowie den bereitgestellten Personal- und Zeitressourcen der obersten Führung unabhängig der Struktur korrelieren.So liegt es auf der Hand, dass ein halber Vollzeitäquivalent für Qualitäts- undRisikomanagement für ein auch noch so kleines Krankenhaus zu wenig ist. So sind diese Funktionen häufig noch mit zusätzlichen in anderem Zusammenhang stehenden Projekten befasst und muss daher als nicht ausreichende Ressource bezeichnet werden. Folgend wird es nicht gelingen, den Risikomanagementprozess mit all seinen „Playern“ und Herausforderungen effektiv umzusetzen. So darf ein Pflegeheim mit ca. 100 Betten und einer Kapazität von 5 Stunden pro Monat für Risikomanagement als Negativbeispiel herangezogen werden. Bei vielen Gesprächen insbesondere mit der mittleren und obersten Führungsebene zeigt sich, dass die einzigartige Option eines hoch qualifizierten Risikomanagers als Ermittler eines Risiko-/Chancen-Profils unabhängig des Vorhabens und der Strategie nicht oder nur unzureichend wahrgenommen wird. Hier muss ebenso festgehalten werden, dass es sehr wohl auch vorbildhafte gelebte Beispiele in der Praxis gibt. Die gängige Aussage „In jedem Risiko steckt auch eine Chance“ bleibt daher leider oft nur Theorie und das Risikomanagement ist wieder nicht dort angesiedelt und angekommen wo es sein sollte - nämlich auf oberster Führungsebene.




Die Operationalisierung von obligatorischen und von der obersten Führungsebene genannten Zielen, Strategien und der gemeinsam erstellten Risikopolitik in alle relevanten Bereiche, Funktionen und Prozesse, ist somit einer der Kernaufgaben des Klinischen Risikomanagers, abhängig der Interaktion und Gliederung eines eventuell übergeordneten Enterprise Wide Risk Managements (Gesamtheitliches Risikomanagements über alle Bereiche). So herausfordernd sich diese Aufgabe auch anhört, so fundamental sind die dafür erforderlichen personellen und zeitlichen Ressourcen sowie entsprechend qualifizierte und kompetente vorgesehene Mitarbeiter. Es muss hier aber auch festgehalten werden, dass der beste Risikomanager ohne die oben angeführten Elemente (RM-Politik, Strategien, Vorgaben usw.), genau diese Kernaufgabe nicht umsetzen kann. Häufig kontrovers geführte Diskussionen zum Thema „Fehlende explizit gesetzliche Forderungen in Österreich zur Einführung eines Klinischen Risikomanagements wie z.B. das Patientenrechtegesetz in der BRD“, erleichtern es dem Risikomanager gerade in der Argumentation um Personal- oder Zeitressourcen, erforderliche Aufwendungen zur Risikobewältigung vor der Heim,- oder V erwaltungsleitung ggfs. der Kollegialen Führung kaum. Im Gegenteil, so gibt es meist zwei Gruppen. Die eine Gruppe, aus deren Sicht absolut verständlich, beklagt, bereits in Vorgaben und Gesetzen unterzugehen, die andere Gruppe sagt jedoch, dass es „leider“ ohne konkrete gesetzliche Vorgaben kaum möglich ist, Entscheidungsträger davon zu überzeugen, Risikomanagement zu implementieren und entsprechende Unterstützung und Ressourcen zu erhalten. Fehlt de Facto der Druck und Support Top-Down bei der Umsetzung von RM, kann der Umstand „wir müssen ja“ helfen, jedoch stellt diese Herangehensweise definitiv nicht das Optimum dar. Auch wenn kein klassisches Phänomen des Risikomanagements, ein Großteil der engagierten Risikomanager, unabhängig der Grundprofession, scheitern häufig frustriert am Streit und Widerstand mit verschiedensten Ebenen und Bereichen, legen die Funktion zurück bzw. resignieren und das aufgrund fehlenden Rückhalts der obersten Führung.



Ein Paradebeispiel hierzu ist die OP-Checkliste. So gibt es z.B. bei Operateuren (hier geht es nicht um die Deklassierung der ein oder anderen Berufsgruppe, wir sitzen alle im Boot des Gesundheitswesens) mit dem Ziel der größtmöglichen Patienten- und Bewohnersicherheit, die sich auch nach Jahren, vehement weigern oder nur unter großen Widerwillen dem Koordinator oder Anästhesisten Antwort auf die Fragen der Checkliste geben. So ist es leider noch immer oft (nachweislich) der Fall, dass bei sehr resistenten und „unangenehmen“ Operateuren, die OP-Checkliste dann doch lieber im Sozialraum ausgefüllt wird, oder stillschweigend (ohne dem vorgesehenen allgemeinen Prozedere) selbst im OP-Saal abgehackt wird. Genau hier kann und muss die Order, in diesem Fall vom Ärztlichen Leiter kommen, dass die OP-Checkliste ausnahmslos und rigoros von allen Kolleginnen und Kollegen umzusetzen ist. Wie wird das in Ihrer Einrichtung gehandhabt? Ohne diesen bereits erwähnten Rückenwind hat somit auch die beste OP-Checkliste, deren Effektivität bei entsprechender Umsetzung wissenschaftlich einzementiert ist, keine positive Auswirkung auf den Prozess bzw. auf die Reduktion von vermeidbaren Schäden. Bei Organisationen mit bereits ausgereifteren RM-Elementen zeigt sich jedoch in der Praxis häufig fehlendes Wissen zum Thema RM-Kennzahlen, Risiko-Reporting sowie in der Risikokommunikation. Die alleinige Aufzählung von Stürzen als Absolutzahl ist weder als umfassendes Risiko-Monitoring zu sehen noch aussagekräftig und kaum verwertbar. Ungeachtet dessen sind Kennzahlen prinzipiell nur so wirkungsvoll wie die Analyse und Ableitung möglicher reaktiver oder proaktiver Ansätze, die darauf beruhen (Ist/Soll Vergleiche). Um ein effektives und adäquat proaktives Klinisches Risikomanagement etablieren zu können, bedarf es genaueren Vorgaben in der Praxis. Basics wie z.B. wie oft gehören welche Risikokennzahlen mit wem kommuniziert, in welcher Form überwacht, ab wann soll und muss z.B. die zuvor definierte Führungseben informiert werden. Was soll über ein „Beinahe“-Fehlersystem wie z.B. CIRS gemeldet werden. Werden auch tatsächliche Fehler mit Patientenschaden gemeldet (wovon aus mehreren Gründen abzuraten ist - bei Patientenschaden muss eine adäquate Dokumentation nachweisbar sein, eine CIRS Meldung alleine wäre hier zu wenig). Was bedeutet der Begriff Fehler in unserer Organisation, wie ist er definiert? Wie sehen unsere Risikokriterien aus? Damit ist unter anderem gemeint, wie wird unter anderen die Schadenshöhe der Organisation auf einer z.B. Risikomatrix dargestellt und eingestuft (im Fachjargon Parametrisierung - Kalibrierung der Toleranzgrenzen genannt). So müssen sich die Wahrscheinlichkeit und die Schadenshöhe von Risiken merkbar zwischen einer Augenambulanz und einer internistischen Intensivstation unterscheiden. Hier spielen selbstverständlich mehrere Faktoren eine Rolle, jedoch bleibt ein Umstand - unabhängig des Bereichs ident - eine detaillierte Auseinandersetzung mit genau diesen Themen und den entsprechenden Risikoexperten. Leider stößt man in der Praxis immer häufiger auf ungezielte „Pauschallösungen“ von unseriösen Beratungsfirmen oder nicht entsprechend in der Tiefe kompetent - qualifizierte Risikomanager.


Wer hat bei und mit Ihnen Ihre Risikotoleranzgrenze kalibriert? Sind Ihre Risikokriterien schlüssig oder wurden sie einfach übernommen? Nicht die Komplexität eines Systems bringt Ergebnisse, sondern die gelebte machbare Durchführbarkeit eines strukturierten und systematischen Risikomanagements. Der Grundsatz „Small is Beautiful“ muss kein Widerspruch zur Effektivität eines Risikomanagements bedeuten, das Gegenteil kann der Fall sein, wenn gut durchdacht.


Fazit: Die Bekenntnis zum Thema Patientensicherheit, das Einfordern der Umsetzung, eine stringente Umsetzung der RM-Politik Top-Down bis zur operativen Ebene, würde ich schätzungsweise und aus meinem Erfahrungswert österreichweit a priori bei gefühlten 30% bis max. 40% sehen. Zum Teil wenig erfahrenes Fachpersonal oder schlicht keine Zeit- und/oder Personalressourcen für die Aufgabe Patientensicherheit, rudimentäre Kenntnisse über multimethodale Analysemethoden, nicht korrekt oder falsch geführte-moderierte Instrumente und Verfahren, fehlende Sensibilisierung der Mitarbeiter, unkonkrete Risikobewältigungsmaßnahmen mit rudimentärer Effektivitätskontrolle und viele weitere Gründe führen zu folgendem Schluss. Aus meiner Perspektive kann von einem Zenit, trotz zum Teil bereits hervorragend organisierter Einrichtungen, noch nicht die Rede sein, da Klinisches Risikomanagement bis heute in den wenigsten Fällen wirklich ausgereizt wird oder wurde. Die Stringenz von Strategien und Politik finden sich selten bis kaum in derivativen Zielen wieder, jedoch noch seltener in darauf abgeleiteten Risiko-Präventionsansätzen. Nach zum Teil sehr kostenaufwendigen Strategieworkshops in atemberaubender Berglandschaft, beginnt die Herausforderung und das Übel bereits beim Abstieg des Gipfels. So lässt sich häufig ein merkbarer Gap zwischen den Strategien vom Berg und zuletzt ankommender Information auf operativer Ebene feststellen. Nein, kein Basismitarbeiter muss strategische Kennzahlen oder Ziele kennen. Jedoch hat die Bergsitzung nur Sinn und Auswirkung auf die Patientensicherheit, sobald jeder Mitarbeiter unabhängig der Profession sich seiner relevanten Risiken in seinem Umfeld bewusst ist und folgend seinen Beitrag im täglichen Tun kennt und auch leistet, um Risiken bestmöglich zu reduzieren. Ein Credo sollte schön langsam mehr Raum und Platz im Gesundheitswesen findendürfen, auch wenn es so mancher Tradition und Gewohnheit widerspricht. DiePatientensicherheit stellt für jeden einzelnen Mitarbeiter mit direkter oder indirekter Auswirkung auf die Patientensicherheit, Aufgabe, Pflicht und Verantwortung dar. Dazu zählt ohne jegliche Wertung und Chronologie, der Student, bis hin zum Primararzt, von der Reinigungskraft bis hin zur Stationsleitung oder der Kollegialen Führung bzw. Geschäftsführung.


Das Soll wäre das wirklich klare, ehrliche, nachweisliche und auch gelebte Bekenntnis der obersten Führung zur Patientensicherheit und dessen Umsetzung. Das Einfordern der Umsetzung des RM-Prozesses, der Mitarbeit aller Führungsebenen und die Erkenntnis, dass Fehlermachen menschlich ist. Die Lösung kann und darf nicht darin liegen, Fehler zu negieren oder zu ignorieren. Vielmehr sollte man danach trachten diesen Fehler nicht ein zweites Mal zu machen. Sollten Sie in Ihrer Organisation einen Mitarbeiter haben der mehrjährig beim und mit Patienten arbeitete und noch nie einen Fehler gemacht hat, übermitteln Sie mir bitte den Namen, ich würde ihn sehr gerne kennenlernen und mit ihm die Illusion der Fehlerfreiheit analysieren.


Als Beispiel darf ich hier die ein oder andere offene Bekennung zu einem passierten Fehler eines Primararztes vor gesammelter Ärztemannschaft erwähnen. Dies ist wahrlich ein Paradebeispiel für eine gelebte Fehlerkultur.


Ich habe Einrichtungen erleben dürfen, deren oberste Führungsebene versichert hat, noch nie Fehler gemacht zu haben. Lassen Sie mich so viel verraten, diese Einstellung ist Garant für eine negative Fehlerkultur und ebenso ein weiterer Garant für Mitarbeiter, die natürlich selbst auch nie Fehler machen oder diese zumindest nie melden würden. Sicherlich ist das bei Ihnen anders?


Fortsetzung folgt.



ImpressumIm Letter LAUT GEDACHT stellen namhafte und erfahrene Expertinnen und Experten Überlegungen zur Umsetzung der Patientenrechte an. Der Letter erscheint unregelmäßig seit Juli 2001 und findet sich auf www.patientenanwalt.com zum kostenlosen Download. Herausgeber: NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft, A 3109 St. Pölten, Landhausplatz 1, Haus 13Tel: 02742/9005-15575, Fax: 02742/9005-15660, E-Mail: post.ppa@noel.gv.at Für den Inhalt verantwortlich: Der Letter dieser Reihe repräsentiert jeweils die persönliche Meinung des Autors. Daten und Fakten sind gewissenhaft recherchiert oder entstammen Quellen, die allgemein als zuverlässig gelten. Ein Obligo kann daraus nicht abgeleitet werden. Herausgeber und Autoren lehnen jede Haftung ab. © Copyright: Dieser Letter und sein Inhalt sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck oder auch nur auszugsweise Weiterverwendungen nur mit Zustimmung des Herausgebers. Zitate mit voller Quellenangabe sind zulässig.




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